Im Sommer 1961 teilte eine Mauer Berlin und veränderte das Leben von Millionen Menschen für immer. Doch der Kampf um die Herzen und Köpfe der Bürger wurde nicht nur mit Beton und Stacheldraht geführt – sondern auch mit einer außergewöhnlichen Waffe: Lautsprechern. Die persönlichen Erinnerungen eines Zeitzeugen offenbaren ein faszinierendes Kapitel des Kalten Krieges, in dem Propaganda und Technik zu einem akustischen Duell über die Mauer hinweg führten.
Persönliche Erinnerungen aus einer geteilten Stadt
Der 13. August 1961 markierte einen dramatischen Wendepunkt im Leben aller Berliner. An jenem Sonntagmorgen erfuhren die Bewohner West-Berlins durch den RIAS (Rundfunk im amerikanischen Sektor), dass an den Sektorgrenzen Stacheldraht gezogen wurde. Die Stadt war über Nacht geteilt worden.
Augenzeugenberichte eines Schülers
Rainer Steinführ, damals Schüler im Bezirk Gesundbrunnen, lebte nur etwa 350 Meter von der entstehenden Mauer entfernt. Seine Schule in der Bernauer Straße grenzte direkt an den Ostsektor. In den folgenden Tagen und Wochen erkundete er mit seinem Fahrrad die gesamte Grenzregion – von Gesundbrunnen über die Bernauer Straße, Bornholmer Straße und Wollankstraße bis nach Wittenau.
Sein ständiger Begleiter war das kleine Taschenradio seines Vaters, ein Grundig Mini-Boy, über den er RIAS empfing. So blieb er stets über die sich rasch ändernde Lage informiert. Er wurde Zeuge dramatischer Momente: Conrad Schumann, der NVA-Soldat, der über den Stacheldraht in die Freiheit sprang, oder Ida Siekmann, die beim Fluchtversuch aus einem Fenster in der Bernauer Straße tödlich verunglückte.
Eskalation und Propaganda-Schlacht
Die Situation an der Grenze verschärfte sich schnell. Die DDR-Organe setzten Tränengas und Nebelgranaten ein, besonders wenn westliche Journalisten zum Fotografieren erschienen. West-Berliner Schüler warfen die Tränengaspatronen zurück, was zu weiteren Attacken führte.
In dieser angespannten Atmosphäre begann der sogenannte “Lautsprecher-Krieg”. Das Studio am Stacheldraht (SAS), verbunden mit dem RIAS, setzte VW-Busse mit jeweils fünf Druckkammer-Lautsprechersystemen ein. Insgesamt etwa zehn Fahrzeuge brachten der “anderen Seite” die West-Berliner Sichtweise akustisch nahe. Diese Wagen zogen natürlich den Unmut der DDR-Behörden auf sich – Tränengas, Nebelbomben, Steine und Abfall flogen über die Mauer.
Technische Aufrüstung
Die Ost-Berliner Seite reagierte mit eigenen Lautsprecherwagen, die Gegenparolen und sowjetische Marschmusik verbreiteten. Ein Militärfahrzeug fuhr dabei im Kreis – vermutlich um durch die erhöhte Bordspannung mehr Leistung zu erzeugen. Oft endete die Lautsprecher-Schlacht unentschieden.
Um diese Pattsituation zu beenden, brachte das SAS neue Fahrzeuge mit ausfahrbaren Drehmasten in Stellung. Auf diesen Masten befanden sich Druckkammer-Lautsprechergruppen mit acht Einzelsystemen und jeweils drei Treibern. Mit dieser technischen Überlegenheit war die “Lufthoheit” erreicht – der Lautsprecher-Krieg ließ nach.
Ein denkwürdiges Finale
Steinführ erlebte die Hochleistungs-Lautsprecherwagen ein letztes Mal am 26. Juni 1963 beim Besuch des amerikanischen Präsidenten John F. Kennedy in Berlin. Das Fahrzeug stand mit voll ausgefahrenem Mast am Hilfseingang des Flughafens Tegel. Aus 1,5 Kilometer Entfernung am Kurt-Schumacher-Damm war die RIAS-Rundfunkübertragung über den Lautsprecherwagen glasklar zu hören – das geliebte Mini-Boy-Radio war an diesem Tag nicht nötig.
Zeugnis eines außergewöhnlichen Kapitels der Geschichte
Diese Erinnerungen dokumentieren ein bemerkenswertes Kapitel des Kalten Krieges, in dem selbst die Luft über Berlin zum umkämpften Territorium wurde. Der Lautsprecher-Krieg zeigt eindrucksvoll, mit welchen ungewöhnlichen Mitteln beide Seiten um die Deutungshoheit kämpften.