Stellen Sie sich vor, Sie könnten mit geschlossenen Augen exakt bestimmen, wo sich jede Schallquelle in Ihrer Umgebung befindet – genau das leistet unser Gehör jeden Tag. Die Kunstkopf-Stereophonie ist eine revolutionäre Aufnahmetechnik, die diese erstaunliche Fähigkeit unseres Hörsystems nachbildet und Klänge so authentisch wiedergibt, dass Sie meinen, mittendrin zu sein. Diese faszinierende Technologie, entwickelt von drei Berliner Wissenschaftlern, veränderte die Art, wie wir Musik und Klänge aufnehmen und erleben können.
Das Phänomen des räumlichen Hörens
Stellen Sie sich vor, Sie stehen auf einer Leiter und lassen versehentlich einen Nagel fallen. Ohne hinzusehen können Sie genau verfolgen, wo er aufschlägt, wie er über den Boden rollt und wo er schließlich liegen bleibt. Diese erstaunliche Fähigkeit unseres Gehörs, Schallquellen präzise im dreidimensionalen Raum zu lokalisieren, bildete die Grundlage für eine revolutionäre Aufnahmetechnik: die Kunstkopf-Stereophonie.
Die wissenschaftliche Entdeckung
Drei Forscher des Berliner Heinrich-Hertz-Instituts – Ralf Kürer, Georg Plenge und Henning Wilkens – gingen der Frage nach, wie unser Gehör diese präzise räumliche Orientierung ermöglicht. Ihre bahnbrechenden Erkenntnisse waren:
- Unterschiedliche Signale: Ein einzelnes Schallereignis erzeugt an beiden Trommelfellen deutlich verschiedene Signale.
- Richtungsabhängigkeit: Die Form unserer Ohrmuschel und des Gehörgangs beeinflusst die ankommenden Schallwellen je nach Einfallsrichtung unterschiedlich.
Die geniale Idee des Kunstkopfes
Die Lösung war ebenso einfach wie genial: Ein künstlicher Kopf mit naturgetreu nachgebildeten Ohren und Gehörgängen, in denen Mikrofone exakt an der Position der Trommelfelle platziert werden. Diese Kunstkopf-Mikrofone nehmen den Schall genau so auf, wie ihn ein menschlicher Hörer an dieser Stelle wahrnehmen würde.
Das Ergebnis ist verblüffend: Hört man eine Kunstkopf-Aufnahme über Kopfhörer ab, ist der räumliche Eindruck so authentisch, dass man meint, den Atem des Sprechers zu spüren, wenn er direkt über dem Kopf spricht. Man ist sogar versucht, sich am eigenen Kopf zu kratzen!
Wie funktioniert räumliches Hören?
Unser Gehirn nutzt verschiedene akustische Hinweise, um Schallquellen im Raum zu lokalisieren:
Links-Rechts-Lokalisation
- Laufzeitunterschiede: Schall von links erreicht das linke Ohr Bruchteile einer Sekunde früher als das rechte
- Intensitätsunterschiede: Das dem Schall zugewandte Ohr empfängt ein stärkeres Signal, während das abgewandte im “Schallschatten” liegt
Entfernungswahrnehmung
- Lautstärke: Entfernte Quellen klingen leiser
- Raumanteil: Das Verhältnis zwischen Direktschall und Reflexionen gibt Aufschluss über die Distanz
- Klangfärbung: Die spektrale Zusammensetzung verändert sich mit der Entfernung
Vorne-Hinten und Oben-Unten-Unterscheidung
Die komplexe Form der Ohrmuschel wirkt wie ein akustischer Filter, der je nach Einfallsrichtung bestimmte Frequenzen verstärkt:
- Von vorne: Betonung bei 300 Hz und 3000 Hz
- Von hinten: Verstärkung bei 1000 Hz und 9000 Hz
- Von oben: Anhebung sehr hoher Frequenzen
Die technische Umsetzung
Das Besondere an der Kunstkopf-Stereophonie: Sie benötigt keine speziellen Zusatzgeräte. Die Aufnahmen sind mit allen herkömmlichen Stereo-Systemen kompatibel – allerdings entfalten sie ihre volle Wirkung nur über Kopfhörer. Bei Lautsprecherwiedergabe würde der Effekt verloren gehen, da dann beide Ohren beide Kanäle hören würden.
Praktische Anwendung
Ab etwa 1973 nutzte der Sender RIAS die Kunstkopf-Technik für Rundfunkübertragungen. Auch auf Schallplatten fanden sich vermehrt Kunstkopf-Produktionen. Die Technik ermöglichte es erstmals, die gesamte akustische Umgebung in ihrer Totalität einzufangen – im Gegensatz zum begrenzten Gesichtsfeld des Auges erschließt sich dem Ohr der komplette Raum.
Ein kleiner Wermutstropfen
Interessanterweise tritt bei manchen Hörern ein Phänomen auf: Schallereignisse, die sich bei der Aufnahme vor dem Kunstkopf befanden, werden manchmal hinten lokalisiert. Wissenschaftler führen dies darauf zurück, dass dem Hörer die visuelle Bestätigung fehlt – man kann die Schallquelle nicht sehen und vermutet sie daher eher im nicht einsehbaren hinteren Bereich.
Fazit
Die Kunstkopf-Stereophonie demonstriert eindrucksvoll, wie ausgeklügelt unser Hörsystem arbeitet. Mit nur zwei “Eingangskanälen” – unseren Ohren – und einem leistungsfähigen Analysesystem – unserem Gehirn – können wir uns akustisch perfekt im Raum orientieren. Die Technik zeigt auch, dass authentische Klangwiedergabe möglich ist, wenn man die natürlichen Mechanismen des Hörens konsequent nachbildet. Ein faszinierendes Beispiel dafür, wie wissenschaftliche Grundlagenforschung zu praktischen Anwendungen führen kann, die unser Hörerlebnis revolutionieren.

